Offener Brief an die Landesvorstände, Kandidat*innen, Mandatsträger*innen und Mitglieder der Parteien SPD, CDU, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP

Sehr geehrte Damen und Herren,

in den kommenden Wochen und Monaten vor der Abgeordnetenhauswahl am 26. September werden Sie den Wählerinnen und Wählern Ihre Programme präsentieren und Ihre Ziele für die nächste Wahlperiode darlegen.

Wir wollen die Wahl zum Anlass nehmen, um dringende Anforderungen von Kolleginnen und Kollegen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen und in Niedriglohnbereichen arbeiten, zu formulieren.

Dabei wollen wir Erreichtes durch Entscheidungen im Abgeordnetenhaus und im Senat nicht unter den Tisch fallen lassen. So haben wir es sehr begrüßt, dass in der Koalitionsvereinbarung des rot-rot-grünen Senats Schritte zur Überwindung prekärer Arbeit angekündigt und jetzt in Teilen auch umgesetzt wurden. Es wurden wichtige Erfolge erkämpft:

  • Beendigung der Praxis sachgrundloser Befristungen in nahezu allen landeseigenen Unternehmen
  • Rückführung des Botanischen Gartens in die Freie Universität
  • Rückführung der Therapeutischen Dienste von Charité und Vivantes (CPPZ und VTD) in die Muttergesellschaften
  • die Charité Facility Management GmbH (CFM) wurde eine 100-prozentige Tochter des Landes Berlin nach Übernahme der bis dahin privaten Anteile
  • die volle Integration in den Tarifvertrag der Länder (TV-L) bei der T&M GmbH, Tochter des Technikmuseums
  • weitere Tarifverträge in zuvor tariflosen Bereichen ausgegründeter Unternehmen in Richtung oder in Anlehnung an die Flächentarifverträge TVöD und TV-L
  • für die Honorarkräfte und freien Mitarbeiter*innen an den Volkshochschulen, den Musikschulen und Hochschulen gab es Fortschritte durch Honorarerhöhungen und mehr Festanstellungen; die VHS-Dozent*innen und Musikschullehrer*innen wurden während des Lockdowns der Einrichtungen vergütet

Gleichzeitig haben wir erlebt, dass es immer wieder auch erhebliche Widerstände gegen die berechtigten Forderungen der „abgehängten Bereiche“ gibt. Wir sind überzeugt, dass ohne den fortdauernden politischen Druck, ohne die gewerkschaftliche Organisierung und Aktion bis hin zum Streik die Erfolge nicht „vom Himmel gefallen“ wären.

In diesem Zusammenhang wollen wir uns ausdrücklich bedanken für die Unterstützung, die wir von Abgeordneten Ihrer Fraktionen und von Verantwortlichen in Ihren Parteien erfahren haben.

Das Thema Prekäre Arbeit in Landesverantwortung kann keineswegs zu den Akten gelegt werden.

  • Bei der Charité Facility Management GmbH (CFM) konnte bis heute kein Tarifvertrag abgeschlossen werden.(*) Zuletzt haben sich der Senat und die Charité Geschäftsführung in die Tarifverhandlungen eingeschaltet. Inmitten der Verhandlungen entlässt die CFM-Geschäftsführung zwei der vier ehrenamtlichen Mitglieder der von der ver.di-Tarifkommission gewählten Verhandlungskommission. Ein skandalöser Akt, der nicht nur freie Tarifverhandlungen, sondern auch das Recht auf gewerkschaftliche Betätigung mit Füßen tritt.
  • Bei den vielen Tochterunternehmen der Vivantes (Reha u.a.) sind bis heute Tariflöhne ein Fremdwort. Die ver.di Kolleg*innen dieser verschiedenen Subunternehmen, die bisher nicht im Rampenlicht standen, haben eine gemeinsamen Tarifkommission gebildet.
  • Die Dozent*innen der Volkshochschulen fordern weiterhin einen Tarifvertrag oder eine Rahmen­vereinbarung zur sozialen Absicherung für arbeitnehmerähnliche Beschäftigte (u.a. Weiterbeschäftigung nach Elternzeit/Krankheit, 100 % Ausfallzahlung bei Krankheit) und die Sicherung der Beschäftigung statt kurzfristiger Honorarverträge.
  • Auch an den Musikschulen wird weiterhin gefordert, dass endlich ein Tarifvertrag auch für die Honorarlehrkräfte verhandelt wird und ein Stufenplan mit dem Ziel 80% Festanstellungen bis 2025 auf den Weg gebracht wird.
  • Die ver.di-Betriebsgruppe der T&M GmbH im Technikmuseum fordert nach wie vor die Rückführung in die Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin. Die Gründung einer landesweiten Besucherservice-Gesellschaft wird abgelehnt.
  • Bei der Fridericus Servicegesellschaft, Ausgründung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg von 2006, haben sich Beschäftigte des Besucherservice, Kassenkräfte, Schlossführer*innen, Aufsichten u.a. gewerkschaftlich organisiert, um den TV-L in Stufen zu erreichen. Es gibt seit Monaten „Gespräche“ über einen Entgelt- und einen Manteltarifvertrag, zu Verhandlungen ist es bis heute nicht gekommen. Der Arbeitgeber verfolgt offensichtlich Änderungen der Tätigkeiten, die bei der ver.di Mitgliedschaft auf Vorbehalte stoßen, weil diese z.B. bei den Schlossführer*innen das Berufsbild in Richtung Aufsichten zu dequalifizieren drohen.
  • Mitarbeiter*innen von Museen und Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg haben sich in jüngster Zeit in einer Initiative „Geschichte wird gemacht“ zusammengefunden, darunter zahlreiche ver.di- und GEW-Mitglieder. Sie fordern für die befristet Angestellten die Überprüfung der tariflichen Eingruppierung und die Änderung bestehender Befristungsregeln. Für Freiberufler fordern sie eine verbindliche Honorarordnung Berlin-Brandenburg und einen Rahmenvertrag für arbeitnehmerähnliche Freie, unter anderem zur sozialen Absicherung.
  • Der Kulturbereich insgesamt ist von ungesicherten und unterbezahlten Beschäftigungs­verhältnissen geprägt. Altersarmut ist für die Menschen, die hier arbeiten, vorprogrammiert.
  • Bei den Freien Trägern ist weiterhin eine Änderung der Rahmenvereinbarungen des Senats für Freie Träger notwendig, mit dem Ziel, auf der Basis des TV-L einen Branchentarifvertrag zu vereinbaren, der für alle Träger verbindlich ist, mit weitreichenden Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten durch den Senat.
  • Es ließe sich Weiteres hinzufügen, zum Beispiel von den Bodenverkehrsdiensten, von den Lehrbeauftragten und Honorarkräften an den Berliner Hochschulen, aus der Erwachsenenbildung, von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, von den Beschäftigten der Taxibetriebe als Teil des öffentlichen Nahverkehrs, …

Damit sind eine Reihe von Feldern angesprochen (ohne dass wir hier einen Forderungskatalog vorlegen wollen), die weiterhin einer Lösung bedürfen und nicht hinter den vorzeigbaren Fortschritten vergessen werden dürfen.

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, der Nachwirkungen des Lockdowns und angesichts des Drucks der nun wieder vermehrten Verschuldung des Landes zeichnet sich ab, dass es nach der nächsten Abgeordnetenhauswahl zu einer Rückkehr zu einer Kaputtspar-Politik kommen wird.

Ist es überzogen, wenn wir befürchten, dass das Thema jetzt aus den Augen verloren geht und nach hinten geschoben wird oder möglicherweise ganz von der Bildfläche verschwindet?

In der Tarifauseinandersetzung 2020 im öffentlichen Dienst haben die Gewerkschaften erlebt, mit welch harter Linie der öffentlichen Arbeitgeber die Beschäftigten der öffentlichen Daseinsvorsorge konfrontiert wurden. Die Arbeitgeber, vertreten durch die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) in den kommunalen und öffentlichen Unternehmen, sprechen von den „klammen Kommunen“, deren Situation schon heute für die Forderungen der Arbeitnehmer*innen keinen Spielraum ließen.

Hinsichtlich der kommunalen Krankenhäuser, wo die Kolleg*innen deutlich ihre Forderungen gerade in den Monaten der Corona Pandemie erhoben haben (in Berlin mit einem 9-Punkte-Katalog), um die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung zu garantieren, hören wir: „Das Geld ist nicht da“. Und das ist wohl eine Absage an mehr Personal und eine Rückführung der ausgegliederten Tochterunternehmen. Mehr noch: Ein Krankenhaus, das Wenckebach-Klinikum, wird geschlossen, als wäre nichts geschehen.

Aus Erfahrungen des Gewerkschaftlichen Aktionsausschusse der letzten Jahre lassen sich einige wesentliche Punkte heraus­kristallisieren.

Wir wollen die dringlichsten politischen Anforderungen an die Parteien hier benennen und damit über die Auflistung der Fälle von Lohndumping und Tarifflucht in Landesverantwortung hinausgehen:

  • Als eine der zentralen Forderungen für alle Beschäftigten in Landesverantwortung hat sich die Forderung nach „TVöD/TV-L für ALLE“ herausgebildet. Die Forderung nach TVöD bzw. TV-L bedeutet eine echte Kampfansage an Niedriglohn und Altersarmut. Sonntagsreden für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ helfen nicht. Mit dieser Forderung verteidigen die Kolleginnen und Kollegen zugleich die öffentliche Daseinsvorsorge. Denn überall fliehen die Beschäftigten aus der prekären Arbeit und verlassen die Betriebe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das verschärft z.T. dramatisch den Personalmangel. Es ginge einfach: der Senat und die Geschäftsführungen der Muttergesellschaften (z.B. von Charité und Vivantes) müssten entscheiden, dass die Tochterbetriebe die Voll-Mitgliedschaft in der Kommunalen Arbeitgebervereinigung beantragen und den TVöD/TV-L für diese Töchter in Kraft setzen.
  • Zwischen Kernbelegschaften und Nicht-Kernbelegschaften zu unterscheiden, kann nicht akzeptiert werden. Zu letzteren werden immer die Beschäftigten der Reinigung gezählt, fast immer die Beschäftigten der Wach- und Sicherheitsdienste. Für die Krankenhäuser und das Gesundheitswesen ist die Erfahrung erst recht aus der Corona-Zeit: wer zwischen medizinischem und nicht-medizinischem Personal unterscheidet, verkennt die Tatsachen und gefährdet damit die Patienten. Ohne Krankentransporte, Sterilisation, Essensversorgung, Abfallentsorgung und Reinigung ist ein Krankenhaus nicht arbeitsfähig. Unser Leitsatz lautet „Ein Betrieb – eine Belegschaft – ein Tarifvertrag“!
  • Aus dem Vorgenannten leiten sich auch die Notwendigkeit der Rückführung der ausgegründeten Tochterbetriebe und die Notwendigkeit der Rückabwicklung von Fremdvergaben ab. Das wäre eine Umsetzung der viel versprochenen Rekommunalisierung. Das betrifft viele Bereiche, einschließlich die Schulreinigung.
  • Von Abgeordneten und Regierungsvertretern wird oft das Argument vorgebracht, man respektiere die Tarifautonomie und könne deshalb nicht den Kampf für Tarifverträge unterstützen. Tarifautonomie ist das Recht, frei von staatlichen Eingriffen über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu entscheiden und insbesondere Tarifverträge über Arbeitsentgelt und Arbeitszeit abzuschließen. Ein Recht, das sich auf die Privatwirtschaft bezieht, aber auch auf den öffentlichen Dienst. Es finden Tarifverhandlungen statt, und zwar zwischen den Gewerkschaften sowie den Verbänden der öffentlichen Arbeitgeber. Bei den ausgegliederten Betrieben sind zumeist die Geschäftsführungen dieser ausgegliederten Betriebe die Verhandlungspartner. Diese sind aber vollständig abhängig von den öffentlichen Auftraggebern, also den politischen Verantwortlichen, die die „eigentlichen Arbeitgeber“ sind. Deshalb haben sich die Kolleg*innen der ausgegliederten Betriebe oftmals im Kampf zu Recht an diese „eigentlichen Arbeitgeber“ gewandt. Wenn es um den Respekt der Tarifautonomie geht, verlangt dies auch den Respekt der öffentlichen Arbeitgeber vor den bestehenden Flächentarifverträgen, also TVöD und TV-L. Deshalb ist unsere Forderung: Rückkehr in den VKA.
  • Auch für atypische Beschäftigte, also Honorarkräfte und Soloselbständige, die für das Land direkt oder indirekt arbeiten, muss bei der Entlohnung der TVöD bzw. TV-L der Maßstab Für die selbständig Arbeitenden steht eine umfassende soziale Absicherung im Vordergrund. Und wir erwarten hier mehr Initiativen, zu Festanstellungen zu kommen.
  • Die Akzeptanz der Gewerkschaften, der Respekt vor der gewerkschaftlichen Aktivität, ist zumindest in einigen landeseignen Tochterunternehmen – vornehm gesagt – wenig ausgeprägt. Aber mehr als das: In verschiedenen Fällen hat es direkt gewerkschaftsfeindliche Akte von Geschäftsführungen gegeben. Die Kolleg*innen erwarten ein entschiedenes Eintreten des öffentlichen Arbeitgebers gegen alle Versuche, gewerkschaftliche Strukturen zu behindern oder zu bekämpfen oder das Recht auf gewerkschaftlichen Streik zu untergraben. Derartige Vorfälle sind unerträglich und verlangen das Eingreifen der Exekutive in allen Unternehmen bis hin zu den Töchtern und Tochtertöchtern (und nicht nur seinen eigenen).

Wir haben uns in der Vergangenheit immer wieder an die Abgeordneten und die im Senat vertretenen Parteien gewandt und durchaus auch Unterstützung erfahren. Mit diesem Schreiben wollen wir noch einmal in aller Dringlichkeit auf nach wie vor bestehende prekäre Bedingungen in weiten Bereichen und vielen Betrieben, die mittelbar oder mittelbar in Landesverantwortung stehen, hinweisen. Die Überwindung dieser Bedingungen sollte noch in dieser und auch der nächsten Legislaturperiode weiterhin auf der Tagesordnung stehen.

Gerne stehen Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen gewerkschaftlichen Fachbereichen für detaillierte Informationen und Gespräche zur Verfügung.

In Erwartung Ihrer Antworten,

mit freundlichen Grüßen

Gewerkschaftlicher Aktionsausschuss „Keine prekäre Arbeit und tariffreie Bereiche im Verantwortungsbereich des Landes Berlin“

 Anmerkung

*) Inzwischen wurde in der Tarifauseinandersetzung bei der Charité Facility Management (CFM) ein Schlichtungsverfahren durchgeführt. Ein Ergebnis liegt vor und es ist davon auszugehen, dass die Tarifparteien diesem zustimmen werden. Die Kündigungen der beiden Kollegen der ver.di Tarifkommission, einer von ihnen auch Mitglied der ver.di-Verhandlungsdelegation während der Schlichtung, sind von der CFM-Geschäftsführung bisher nicht zurückgenommen worden.

Der Offene Brief als PDF-Datei befindet sich hier.